Newsletter Arbeitsrecht 11/22

Aktuelle Urteile von Arbeitsgerichten

Die Gerichte haben – selbstverständlich – auch während der Pandemie Urteile gefällt. Die aus unserer Sicht wichtigsten Entscheidungen stellen wir Ihnen hiermit vor. 

Liebe Leserinnen und Leser,

lange haben Sie von uns keine regelmäßigen Newsletter mehr erhalten. Während der Corona-Pandemie änderten sich die rechtlichen Vorgaben zum Infektionsschutz gewissermaßen im wöchentlichen Rhythmus, sodass wir uns dazu entschieden haben, nur individuelle Anfragen zu beantworten. Das Covid 19-Virus bestimmt unser aller Leben im Moment glücklicherweise weniger stark, sodass wir uns jetzt anderen arbeitsrechtlichen Themen zuwenden können. Die Gerichte haben – selbstverständlich – auch während der Pandemie Urteile gefällt. Die aus unserer Sicht wichtigsten Entscheidungen stellen wir Ihnen hiermit vor. Der nächste Newsletter wird sich mit dem Thema Home-Office befassen.

Viel Spaß bei der Lektüre

Ihre Friederike Streitbörger

 

Themenüberblick

1. Arbeitszeit

2. Urlaub und Quarantäne

3. Kurzarbeit und Urlaub

4. Hinweispflichten des Arbeitgebers bei Urlaub

5. Beschäftigungspflicht

6. Betriebsrisiko und Lockdown

7. Kein Mindestlohn für Praktikanten

8. Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

9. Datenverarbeitung und Auskunftsanspruch

10. Urlaubsgewährung bei fristloser Kündigung

 

1. Arbeitszeit

Hohe Wellen hat die Entscheidung des BAG zur Zeiterfassung geschlagen (BAG 13.09.2022 ABR 22/21). Während der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom 19.05.2019 (C-55/18) nur die Mitgliedsstaaten verpflichtet hatte, Gesetze zur Arbeitszeiterfassung zu erlassen, entschied das Bundesarbeitsgericht nun, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einführung eines Arbeitszeiterfassungssystems bereits heute besteht. Nach Auffassung des BAG ergibt sich diese Pflicht aus § 3 Arbeitsschutzgesetz. Diese Vorschrift verpflichtet die Arbeitgeber, die „erforderlichen Maßnahmen des Arbeitsschutzes“ zu ergreifen. Die Arbeitszeiterfassung dient also dem Schutz der Arbeitnehmer. Da die Entscheidung bisher nur als Pressemitteilung vorliegt, lassen sich die Auswirkungen des Richterspruchs noch nicht abschließend beurteilen. Während einige namhafte Juristen (Prof. Thüsing, Bonn) von einem „Paukenschlag“ sprechen, weisen andere Kommentatoren darauf hin, dass es bereits jetzt Pflichten zur Erfassung von Überstunden sowie von Feiertags- und Sonntagsarbeit und daneben auch in einigen Branchen sowie bei Minijobbern gibt. Vielfach wird auch betont, dass die Entscheidung nicht das Ende der Vertrauensarbeitszeit bedeute. Fest steht heute also nur, dass der Arbeitgeber ein System zur Arbeitszeiterfassung einführen muss. Die Ausgestaltung unterliegt der betriebsverfassungsrechtlichen Mitbestimmung. Sobald der vollständig begründete Beschluss des BAG vorliegt, informieren wir Sie über die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen.

 

2. Urlaub und Quarantäne

Warten müssen wir noch auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes zum Urlaubsrecht. Genauer: Zu den Auswirkungen einer behördlich angeordneten häuslichen Quarantäne auf den Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers. Während das erstinstanzliche und das zweitinstanzliche Gericht dem Arbeitnehmer, der während seines Urlaubs eine Quarantäneanordnung erhielt und für die Zeit nach der Quarantäne weiteren Urlaub haben wollte, Recht gaben, fragt das BAG nun den EuGH, ob es mit der Arbeitszeitrichtlinie und der Grundrechtecharta der EU in Einklang steht, wenn vom Arbeitnehmer beantragter und vom Arbeitgeber bewilligter Jahresurlaub, der sich mit einer nach Urlaubsgewährung durch die Behörde angeordneten Quarantäne zeitlich überschneidet, nach nationalem Recht nicht nachzugewähren ist, weil der betroffene Arbeitnehmer selbst nicht krank war. Für Sie als Arbeitgeber bedeutet dies im Moment: War Ihr Mitarbeiter während des Urlaubs nicht an Corona erkrankt, durfte er jedoch nicht „vor die Tür“, da für ihn eine Quarantäneanordnung galt, so müssen Sie den Urlaub erst einmal nicht nachgewähren. Sie sollten vielmehr die Entscheidung des EuGH (mit der wir allerdings frühestens gegen Ende des kommenden Jahres rechnen können) abwarten.

 

3. Kurzarbeit und Urlaub

Da wir uns auf eine Rezession zubewegen, ist leider nicht auszuschließen, dass auch künftig von dem Instrument der Kurzarbeit Gebrauch gemacht wird. Dies war ja während der Pandemie umfangreich der Fall, sodass sich das BAG mit der Frage der Auswirkung von Kurzarbeit auf den Urlaubsanspruch befassen musste. Mit Urteil vom 30.11.2021 (9 AZR 225/21) entschied das BAG, dass der Urlaubsanspruch bei Kurzarbeit anteilig zu kürzen sei. Die Voraussetzung ist Kurzarbeit „Null“, d.h. Ausfall einzelner ganzer Arbeitstage wegen Kurzarbeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Arbeitgeber kurzfristig die Rückkehr des Arbeitnehmers in den Betrieb anordnen kann. Interessant ist, dass die Kürzung des Urlaubsanspruchs selbst bei langzeiterkrankten Arbeitnehmern vorgenommen werden kann, wenn ihnen gegenüber wirksam Kurzarbeit angeordnet wurde. Bei der Berechnung der Kürzung ist die Anzahl der Tage mit Arbeitspflicht innerhalb des Urlaubsjahres in ein Verhältnis zu setzen zu den möglichen Gesamtarbeitstagen.

 

4. Hinweispflichten des Arbeitgebers bei Urlaub

Sie erinnern sich an die für Arbeitgeber als desaströs empfundene Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 2018 (Max-Planck-Gesellschaft). Der EuGH hatte entschieden, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, seine Arbeitnehmer drauf hinzuweisen, dass nicht genommener Urlaub verfällt. Fehlt es an einen solchen Hinweis, so besteht der Urlaubsanspruch fort. In dieselbe Richtung geht ein Urteil des BAG vom 07.09.2021 (9 AZR 3/21): Der Arbeitnehmer war vier Jahre lang und bis zur Beendigung seines Arbeitsverhältnisses krank. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte er die finanzielle Abgeltung nicht genommener Urlaubstage. Sein Arbeitgeber habe es unterlassen, ihn rechtzeitig auf den drohenden Verfall des Urlaubs (wohlgemerkt: während der andauernden Krankheit!) hinzuweisen. Deshalb sei er nicht in der Lage gewesen, auf eine „Gesundschreibung“ hinzuwirken und seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen. Außerdem meinte er, sein Arbeitgeber habe durch die Angabe der Anzahl nicht genommener Urlaubstage auf den Abrechnungen seinen Urlaubsanspruch anerkannt.

Das BAG entschied, dass der Urlaubsanspruch auch dann fünfzehn Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweispflichten nicht nachkommt. Grundsätzlich, so das BAG, sei der Arbeitgeber jedoch verpflichtet, auch den dauerkranken Arbeitnehmer auf den bevorstehenden Verfall des Urlaubs hinzuweisen. Da der Arbeitnehmer aber innerhalb des 15-monatigen Übertragungszeitraums für den Urlaub niemals Urlaub hätte nehmen können – eben weil er krank war – sei der Anspruch hier verfallen, obwohl der Arbeitgeber seine Hinweispflicht verletzt hatte.

Wie zu entscheiden ist, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweispflichten nicht nachkommt und der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit jedoch teilweise hätte nehmen können, ist noch offen. Dazu hat das BAG in einem anderen Verfahren ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet.

Die Entscheidung macht deutlich, wie ernst Arbeitgeber die Hinweispflichten gegenüber Arbeitnehmern zur Inanspruchnahme des Urlaubs nehmen müssen: Es empfiehlt sich, die Arbeitnehmer zu Beginn des Jahres wie auch im Laufe des Urlaubsjahres (zum Beispiel nach Ende der Schul-Sommerferien) darauf hinzuweisen, dass sie den noch offenen Urlaub rechtzeitig zu nehmen haben und dass der Urlaubsanspruch bei nicht rechtzeitiger Urlaubsnahme erlischt.

 

5. Beschäftigungspflicht

Weil die Corona-Pandemie eventuell wieder aufflammt und wir nicht ausschließen können, dass die Bundesregierung auch künftig Risikogebiete definiert, sollten Sie die folgende Entscheidung des BAG kennen: Mit Urteil vom 10.08.2022 (5 AZR 154/22) entschied das BAG, dass ein Arbeitnehmer, der aus einem Risikogebiet zurückkehrt, jedoch einen negativen PCR-Test vorweisen kann, nicht auf eigene Kosten und ohne Vergütungsanspruch von dem Arbeitgeber nach Hause geschickt werden darf. Hält der Arbeitnehmer die rechtlichen Vorgaben bei der Einreise nach Deutschland ein und weist er keine Infektionssymptome auf, so muss der Arbeitgeber ihn beschäftigen – oder ihn auf seine Kosten unter Fortzahlung der Vergütung von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung freistellen.

6. Betriebsrisiko und Lockdown

Zu Beginn der Lockdowns war es unter Arbeitsrechtlern äußerst umstritten, ob der Arbeitgeber, der grundsätzlich das „Betriebsrisiko“ und das „Beschäftigungsrisiko“ trägt, seinen Arbeitnehmern gegenüber während eines behördlich verfügten Lockdowns zur Entgeltfortzahlung verpflichtet ist. Das BAG hat dies in seinem Urteil vom 13.10.2021, 5 AZR 2011/21, anders als die Vorinstanzen verneint. In einem solchen Fall, so das BAG, realisiere sich nicht ein in einem bestimmten Betrieb angelegtes Betriebsrisiko. Die Unmöglichkeit der Arbeitsleistung sei vielmehr Folge eines hoheitlichen Eingriffs zur Bekämpfung einer die Gesellschaft insgesamt treffenden Gefahrenlage. Es sei hier Sache des Staates, für einen adäquaten Ausgleich der den Arbeitnehmern entstehenden finanziellen Nachteile zu Sorgen. Das Risiko könne nicht dem Arbeitgeber auferlegt werden. Geklagt hatte eine geringfügig beschäftigte Arbeitnehmerin, die kein Kurzarbeitergeld erhielt.

 

7. Kein Mindestlohn für Praktikanten

Am 01.10.2022 ist der gesetzliche Mindestlohn auf EUR 12,00 brutto pro Stunde angehoben worden. Das Mindestlohngesetz gilt jedoch nicht für Praktikanten, vgl. § 22 MiloG. Dazu hat das BAG am 19. Januar dieses Jahres (5 AZR 217/21) entschieden, dass ein Praktikant, der ein Pflichtpraktikum ableistet, welches Zugangsvoraussetzung für seinen Studiengang ist, auch dann keinen Anspruch auf Vergütung nach dem MiloG hat, wenn sein Praktikum länger als drei Monate dauert. Neu an dieser Entscheidung ist, dass nicht nur obligatorische Praktika während des Studiums, sondern auch Praktika, die in Studienordnungen als Voraussetzung für die Aufnahme des Studiums verpflichtend vorgeschrieben sind, nicht mit dem Mindestlohn zu vergüten sind. Im entschiedenen Fall ging es um ein Krankenpflegepraktikum vor Aufnahme des Studiums der Humanmedizin.

 

8. Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Wenig öffentlichkeitswirksam, dafür aber im alltäglichen Arbeitsleben von großer Bedeutung, ist das Urteil des BAG zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 08.09.2021 (5 AZR 149/21). Was war geschehen? Die Klägerin hatte ihr Arbeitsverhältnis selbst gekündigt. Sie legte am selben Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Erstbescheinigung) vor, die ihr eine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses 14 Tage später bescheinigte. Das Arbeitsgericht und auch das Landesarbeitsgericht hatten der Klägerin den Anspruch auf Entgeltfortzahlung zuerkannt. Das Bundesarbeitsgericht sah dies anders: Zwar komme der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert zu. Der Arbeitgeber könne jedoch Umstände schildern und nachweisen, die ernsthafte Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers begründen. Dazu muss der Arbeitgeber im Prozess „Indiztatsachen zur Erschütterung des Beweiswerts“ der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vortragen. Die Merkwürdigkeiten sah das BAG hier in dem Zeitraum der attestierten Arbeitsunfähigkeit (von der Kündigung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses) und in der Art der Diagnose („Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen“). Das Urteil macht deutlich, dass Arbeitgeber die Begleitumstände der Arbeitsunfähigkeit hinterfragen sollten. Dazu zählen zum Beispiel Verhaltensweisen des Arbeitnehmers, etwa wenn dieser nach einer Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber den Betrieb verlässt und sich „krankmeldet“. Bekanntes Beispiel ist die Androhung einer „Krankmeldung“ für den Fall, dass der Mitarbeiter für einen bestimmten Zeitraum keinen Urlaub erhält. Auch aufeinanderfolgende Erstbescheinigungen von unterschiedlichen Ärzten können ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der ärztlichen AU-Bescheinigungen begründen. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Arbeitnehmer einer Anordnung der Krankenkasse zur Untersuchung beim medizinischen Dienst grundlos nicht folgt.

 

9. Datenverarbeitung und Auskunftsanspruch

Ausgeschiedene Arbeitnehmer versuchen vielfach, ihren vormaligen Arbeitgeber mit datenschutzrechtlichen Auskunftsansprüchen zu quälen. Damit hatte sich das BAG in einem am 27.04.2021, 2 AZR 342/20, entschiedenen Fall zu befassen. Der Kläger verlangte von seinem vormaligen Arbeitgeber unter anderem Auskunft über die von dem Arbeitgeber verarbeiteten personenbezogenen Daten und Überlassung von Kopien dieser Daten. Insbesondere wollte er Kopien seines E-Mail-Verkehrs haben und alle E-Mails, in welchen er namentlich erwähnt war. Diesen Antrag hielt das BAG für zu unbestimmt. Zwar ließ das BAG offen, ob das Recht auf Überlassung einer Kopie nach Art. 15 Abs.3 DSGVO die Erteilung einer Kopie von E-Mails umfassen kann, jedenfalls müsse ein solcher Anspruch mit einem hinreichend bestimmten Klagebegehren geltend gemacht werden. Mit anderen Worten: Der Kläger muss die herausverlangten E-Mails bezeichnen – was ihm nach Ausscheiden aus dem Betrieb kaum jemals möglich sein dürfte.

 

10. Urlaubsgewährung bei fristloser Kündigung

Durch die jüngeren Entscheidungen des BAG zum Urlaubsrecht im Kontext einer fristlosen Kündigung werden die Handlungsmöglichkeiten des Arbeitgebers erweitert: Der Arbeitgeber kann, so entschied das BAG am 25.08.2022, 9 AZR 612/19, bei Ausspruch einer fristlosen und hilfsweise ordentlichen Kündigung Urlaub vorsorglich für den Fall gewähren, dass das Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche Kündigung aufgelöst wird. Voraussetzung ist, dass der Arbeitgeber eine dahingehende Erklärung abgibt und das Urlaubsentgelt entweder vor Antritt des Urlaubs zahlt oder dessen Zahlung zumindest vorbehaltlos zusagt. Der Arbeitnehmer wandte in dem entschiedenen Fall ein, sein Urlaub gewähre nicht den vollständigen Erholungseffekt, da er sich ja bei der Arbeitsagentur arbeitssuchend melden müsse. Dem widersprach das BAG mit der Begründung, Urlaubsbeeinträchtigungen lägen in der Sphäre des Arbeitnehmers. Auch die Ungewissheit der Parteien über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses vor Abschluss des Kündigungsschutzverfahrens stehe dem Erholungszweck des Urlaubs nicht entgegen.

 

 

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Friederike Streitbörger, Rechtsanwältin für Arbeitsrecht in Bielefeld